Tanz geht vom Körper aus und wird an seiner Oberfläche verwandelt. Hier verweben sich Linien und Rhythmen zu Mustern, die in ihrer Wirkung das Gesamtbild vom jeweiligen Tanzstil und zugleich die persönliche Interpretation des Tanzenden entwerfen. Der orientalische Tanz verfügt über ein breitgefächertes Bewegungsvokabular. Ruckartige, bis hin zu vibrierende Bewegungen, ausladende Schwünge und weite Kreise, endlos scheinende Spiralen sowie sanft fließende, sich schlängelnde und wiegende Bewegungen wechseln sich ab und werden zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt. Dissoziierte Bewegungsmuster variieren mit der Kompaktheit und Stabilität, die durch die Konzentration auf die Körpermitte zustande kommt.
Doch die Oberfläche des Tanzes ist nicht gefangen durch die Konturen des Körpers. Kostüme im orientalischen Tanz zollen seinen erforderlichen Bewegungsqualitäten Tribut. Herunterbaumelnde Fransen, Perlen, Schnüre usw. untermalen die rhythmisch oszillierenden Bewegungen, während hauchzarte, nachgiebige und wallende Stoffe, Voiles, Schleier die geschmeidigen sowie die raumgreifenden Bewegungen auffächern und aus- oder teils sogar übermalen. Die arttypische Zweiteilung des Kostüms bringt die isolierten Bewegungsabläufe – die Trennung von Brustkorb und Becken, sowie die vielfältigen Bewegungsspektren des Bauches zum Vorschein.
Die Dynamik des Tanzenden dringt von innen nach außen und überträgt sich auf die getanzte Materie. Die Hülle – „die Verkleidung“ – wird zur Haut des Tanzes. Sie lässt die Bewegung in den Raum übergehen, umspielt und materialisiert sie.
Rainer Maria Rilke
Shawl
O Flucht aus uns und Zu-Flucht in den Shawl,
und, um die stille Mitte, das Begehren,
es möchte noch einmal und noch einmal
die unerhörte Blume wiederkehren
die sich vollzieht im schwingenden Geweb
Aus: Die Gedichte 1922-1926 (Bern, Oktober 1923)